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Tijana Popovic-Mladjenovic

BRÜCKEN ... DER ZEIT

Alfred Schnittke: Konzert für Bratsche und Orchester

Vorschlag zu einer neuen lesart der Musikgeschichte

PROLOG

Ante scriptum. Das Konzert für Bratsche und Orchester (1985) von Alfred Schnittke ist dreisätzig angelegt: I. Satz - Largo, II. Satz - Allegro molto, III. Satz - Largo, zwei langsame Ecksätze und ein rascher Mittelsatz. Ebenso wie die Sonate für Bratsche und Klavier (1975) von Schostakowitschs, sein opus ultimum. Sowohl im Werk Schnittkes wie Schostakowitschs für Bratsche ist der Musikablauf des Mittelsatzes, seine Entwicklung, Fortspinnung, fast grimmig, toll, eigentlich rastlos, unruhig, tosend, stürmisch. Ebenfalls ist in den dritten Sätzen dieser beiden Werke die größte emotionelle Kraft konzentriert, das Gravitationszentrum befindet sich sowohl im Konzert als auch in der Sonate im abschließenden, längsten und langsamsten Satz. Den beiden Werken ist auch die augenfällige, doch enigmatische Anspielung an Beethoven, sogar an dasselbe Werk gemeinsam (Allusion an den ersten Satz der Klaviersonate Op. 27 No. 2 im dritten Satz der Sonate Schostakowitschs und im zweiten Satz des Konzerts Schnittkes, weiter an den ersten Satz der Klaviersonate Op. 2 No. 3 in allen drei Sätzen von Schnittke).

Gemäß ihrer spezifischen Funktion und ihren gewissen Grundcharakteristiken, entsprechen die Sätze des Schnittkeschen Konzerts den Teilen einer Sonatenform: Der I. Satz entspricht der Exposition, der II. der Durchführung, der III. der Reprise. Jedoch findet im jeden Satz eine gewisse Ablenkung, Transformierung, "Umdeutung" der Merkmale der entsprechenden Teile der Sonatenform statt.

Die Sondierung hat begonnen. Vielleicht zufällig, vielleicht absichtlich. Das ist aber nicht so wichtig. Die Landschaft ist außerordentlich verwickelt, mehrschichtig - ein Abgrund. Eine und unzählige. Speziell und allgemein. Eigen und fremd. Nahe und weit entfernt. Momentan und allzeitlich... Musikalisch ist sie sicherlich, was einzig von Wichtigkeit ist. Aus ihr werden durch Sondierung einige psychische Einkapselungen herausgezogen. Prozesse, von anderen Teilen abgerissen, in sich geschlossen, erstickt, eingemauert. Irgendeine entzündbare Brennpunkte des Gedächtnisses - Aufzeichnungen des Gedächtnisses.

Gedächtnis, Erinnerung - Aufzeichnung, Spur - Vergessen. Vergangenheit, Geschichte. Landschaft der Psychogeschichte.

Die Sonden funktionieren gemäß den Prinzipien der Anamnese, Anagogie und Anamorphose. Sie "lösen die Zeit auf", das heißt, eine Form welche die Zeit annimmt - das Vergessen. Psychologie in der Zeit, analog der Geometrie im Raum. Das Gedächtnis deckt die Räume des Vergessenen auf, anscheinend völlig pfadlose Wege alles dessen, was einst im gewissen Augenblick in Vergessenheit geraten, und hilft die abgerissenen, in der Zeit untergetauchten Fäden wieder zu verknüpfen, zusammenzufügen und auf oft neue und ungewöhnliche Weise zu verbinden. Die Bilder, welche die Erinnerung auswählt, sind anscheinend beliebig, exklusiv, ungreifbar wie jene, welche die Phantasie hervorbringt und die Wirklichkeit vernichtet.

Denken, Andenken, Wirklichkeit.

Wir betrachten einen Brocken des Prozesses. Gleichzeitig, über und unter uns, außerhalb der Grenzen des Blickes und der Einbildung, just hinter dem Gesichtskreis des Bewußtseins, unter der Bewußtseinsgrenze, in einer Zeit, die knapp über der Wahrnehmungsgrenze steht, gehen Tausende und Millionen gleichzeitiger miteinander verkoppelter Umwandlungen vor sich. So sehr sie miteinander verbunden sein und sich einander ergänzen mögen, übertrifft diese Gleichzeitigkeit einer Fülle von Vorgängen unsere Möglichkeiten. Wir begegnen dem auch schon bei relativ einfachen Erscheinungen. Und die Erinnerung, ihre Zeiten, ihre Einbildung und Wirklichkeit, ist eine Milliarde auf Potenz erhoben, sie ist manchmal gar nicht zu denken. Wir begreifen sehr wenige Dinge auf einmal, nur das was unmittelbar vor uns geschieht, hier und jetzt.

HIER UND JETZT
Erster Satz - Largo - Ex-Position

Ante scriptum. Im langsamen ersten Satz werden drei Themen exponiert; zwischen erstem und zweitem Thema gibt es keine Überleitung; das zweite Thema stellt ein Komplex dar, wo nach der Aufstellung des Themen "kerns" das Material aus dem ersten Thema interpoliert wird, und dann folgt ein kontrastierender, durchführungsartiger Abschnitt, mit gleichzeitigem Erklingen von Materialien beider vorhergehenden Themen; das dritte Thema hat Schlußgruppenfunktion und bringt ein völlig neues, ausgeprägtes thematisches Material, obwohl es teilweise aus dem zweiten Thema hervorgegangen ist; der Satz schließt mit dem "Kopf" des ersten Themas, einem Epilog. Kleine Dimensionen des ersten Satzes im Vergleich zum zweiten, seine Mosaikhaftigkeit, Knappheit und Einfachheit in der Anlage und Aufstellung der thematischer Materialien, ihre Aneinanderreihung, sozusagen "Miteinander-Verklebung" - alles das würde mehr auf eine langsame Einleitung als auf eine Sonatenexposition passen. Aber die Sublimiertheit der musikalischen Gedanken, ihre höchste Rationalisierung im Sinne einer Aufstellung ihres "bis zum Grunde" bloßgestellten Wesens - das gibt diesen thematischen Gebilden und dem ganzen ersten Satz außerordentliche Bedeutung, Gewicht und semantische Kraft.

Schematische Darstellung des I. Satzes

Erste Erinnerung - Erstes (Ur)Bild - Erstes thematisches Material

Die Tiefe, aus welcher es hervorquillt, ist unmeßbar. Vielleicht wirklich die älteste, ursprünglichste und allumfassende. Rede der Schöpfung, die (ur)alte Rede. Alles beginnt mit dem emotionellen Potential der Erinnerung, das plötzlich nach oben aufbricht. Kein Schlag. Aus unerwarteter Richtung überschwemmt die Musik jenes Hier und jetzt - Möglichkeit einer vollkommenen Mitteilung der Gedanken und der Gefühle des menschlichen Verstandes, seiner endlosen Feinheiten und Nüancen.

Die Aufzeichnung ist in sich geschlossen, eingemauert. Eine Periode aus zwei Sätzen - 8 + 8 (Bsp. 1). Die Sätze sind von gleichem Bau - 2 + 2 + 4.

Erster Zweitakter des ersten Satzes. Ein zurückgehaltener Schrei (Intervall der kleinen None aufwärts gis-a1 und abwärts a1-gis) der Solobratsche ist auch in sich selber unterdrückt. Eingemauert auch die Vertikale (kleine Sekunde gis1-a1, Flageolettöne in Kontrabässen un Violoncellen), mit der Horizontale identisch. Der Themen"kopf". Die Zeit/der Raum ist in sich geschlossen. Begrenzt. Aber das zerlegte Intervall der kleinen None (größer als die große Sept, die den Zwölftonraum begrenzt, und größer als die Oktave, dessen Töne die Ecken der modalen und Dur-Moll-Tonleitern vorstellen) scheint aus dieser Einfassung, diesem Rahmen der vorausgesetzten realen Raum-Zeit-Einheit hervorzutreten. Eingentlich zeigt es daß die Grenze keine Linie ohne jegliche Dicke ist. Ihre Vergrößerung bringt immer etwas Neues zustande. Die Werte innerhalb derselben wachsen früher oder später ins Unendliche. Andererseits, die Simultaneität des Intervalls der kleinen Sekunde macht es unmöglich, daß das einmal Erschaffene jemals zur Null schrumpfen und verschwinden könnte.

Zweiter Zweitakter des ersten Satzes. Das Eröffnen und Erobern der Raum-Zeit-Einheit ist begonnen. Das Intervall der großen Sept aufwärts (g-fis1) in der Solobratsche kehrt nicht mehr, wie im ersten Zweitakter, zu seinem Ausgangspunkt zurück. Die kleine Sekunde gis1-a1 im Kontrabaß und Violoncell dauert fort, mit Zutritt der Töne fis2 (erster Kontrabaß, große Sext von a1) und g (drittes Violoncell, kleine None von gis1). Dieser Akkord aus vier Tönen (fis-g-gis-a), welche schon in den beiden ersten Zweitaktern von der Solobratsche erobert worden sind, dauert bis zum Schluß des ersten Satzes.

Der Viertakter des ersten Satzes. Im Part der Solobratsche formt sich ein absteigender melodischer Gang aus großen und kleinen Sekunden - Fortsetzung und allmählicher Rückzug von fis1 zum g und schließlich zum as (enharmonisch gis), zum Ton von welchem alles ausgegangen ist. Gleichzeitig mit dem melodischen bildet sich im Solopart auch ein harmonischer Ablauf (unabhängig vom liegenden Akkord in den Kontrabässen und Violoncellen), der als eine gesonderte Schicht auch tonal erklärbar ist als C: I-V, Es: V-I-VII, ges (fis): VI-V, mit dem Schluß auf der Quinte des-as.

Zweiter Satz. Analog zum ersten Satz und zum Ausbreiten der Raum-Zeit-Einheit, erscheinen in der Solobratsche (es geht um die Zweitakter, um den Themen"kopf") zerlegte Intervalle der kleinen None und großen Sept (d1-es2-es2 und des2-c3), durch die Akzente der Quinten (des-as und c-g) unterstützt, während die Vertikale (den Kontrabässen und Violoncellen gesellen sich die Bratschen - also die gesamten Streicher, weil Schnittke in dieser Komposition keine Violinen vorgeschrieben hat) jenes umfaßt, was die Solobratsche bereits erobert, bzw. was sie unzweideutig in den ersten vier Takten des ersten und zweiten Satzes erobert hat. Zusammengefaßt würde es den Raum von zwei kleinen Terzen darstellen (fis-g-gis-a und c-des-d-es). Endlich wird im Viertakter des zweiten Satzes der gesamte chromatische Raum erreicht. Der liegende Streicherakkord verschwindet, und die Solobratsche baut die ganze chromatische Tonleiter auf. Zuerst wird ihr Stützpunkt befestigt, der Schwerpunkt, das Zentrum von dem man ausgeht. Das sind die Töne c ("Anfang" aller Bewegung, "Tonika") und h ("Ende" aller Bewegung, "Leitton"), die abwechselnd im Intervall der kleinen Sekunde erscheinen, in rhythmischen Werten die sich allmählich, in winzigen Zeitintervallen, verkleinern, bis sie im ff-Klang explodieren, eine absteigende chromatische Skala bildend, die auf verschiedene Oktaven verteilt ist, mit nur einem aufsteigenden Schritt - dem Oktavenbruch längs ihrer Symmetrieachse zwischen den Tönen fis und f. Sie ist auch die Eine und Geschlossene. Aber das Schließen ist gleichzeitig ein Öffnen auf einer anderen Ebene - der Intervallsprung von c auf h (große Sept, nicht mehr kleine Sekunde abwärts), bzw. eine Möglichkeit weiteren Verlaufs: Der "Kopf" des ersten Themas, der immer gleichzeitig ein Signal des Endes und des (neuen) Anfangs sein wird, ein Interpunktionszeichen des syntaxischen Ablaufs, ein Element der Segmentation.

Melodisch gesehen, ist die Horizontalschicht des Soloparts im ersten thematischen Material ausschließlich aus Intervallen der kleinen Non, großen Sept, kleinen und großen Sekund gebildet. Ihr harmonisches Potential, ihre akkordische, vertikale Struktur unterstreicht die Terz-Quint-Sext-Oktavenbeziehungen bis zum Moment der Bildung der chromatischen Skala. Dann erstehen in der Vertikale des Soloparts die tragenden Pfeiler - der Akkord cis1-d1-gis1, entstanden durch Überlagerung der kleinen Sekunde und übermäßigen Quarte, dessen Ecktöne eine reine Quinte bilden. Die übermäßige Quart und kleine Sekunde haben die quasi-Tonalität zersprengt. Die Horizontale des Soloparts ist zugleich "(ur)alt", archaisch, überzeitlich - und atonal, "Altersgenosse" des 20. Jahrhunderts. Die Vertikale in der Solostimme ist quasi-tonal und atonal. Die Vertikale, der Hintergrund im Streicherchor ist eine sich erweiternde Perspektive, unvollständiger anamorphischer Widerschein der Horizontale. Er hebt die Gültigkeit und Funktion jeder "Intervallität" auf.

Zweite Erinnerung - Zweites Bild - Zweites thematisches Material (Komplex)

Ich nenne es "Choral". Eine Erinnerung ebenso in sich geschlossen, nach dem Prinzip der konzentrischen Kreise. Eine Periode aus drei Sätzen - 5 + 4 + 3 (Bsp. 2). Eigentlich drei "Seufzer" in einer Einheit, wo der Spiral"fächer" sich nur einmal ausbreitet und zusammenschließt.

Die "Choral"melodie im Diskant (Solobratsche) wird von übrigen Stimmen (sämtliche Streicher) fast durchgehend homophon oder bisweilen in freier Polyphonie begleitet. Einstimmiger "Gesang" mit Begleitung der "Orgel", oder vierstimmige, zeitweise fünfstimmige Harmonisation für "Solo-Alt" und "Männerchor" (Bässe und Baritone). Symmetrischer, in Takte aufgeteilter Melodieaufbau. Die Melodie ist "schlicht", in charakteristischen längeren Notenwerten schreitend, mit ausgewogenen Auf- und Abstiegen - "Bogenform" - in den Abmessungen der melodischen Segmente. Jeder "Vers" - ein musikalischer Satz mit "Kadenz" und "Fermate" auf dem Schlußton. Ein "Choral" - mit Elementen sowohl des gregorianischen als auch des protestantischen Chorals.

War der gregorianische Choral nicht die Grundlage, aus welcher die europäische mehrstimmige Musik entsprossen ist? Hat der gregorianische cantus firmus in der Frühzeit der Polyphonie nicht als Rückgrat des mehrstimmigen Satzes gedient?

Doch, die im ersten Satz aufgestellte "Choral"melodie ist eine Zwölftonreihe, die infolge ihres "choralartigen" Charakters und ihrer "choralmäßigen" Verarbeitung nicht als solche perzipiert wird. Die Reihe (Bsp. 3) stellt sich aus vier Segmenten zu je drei Tönen zusammen, wo neben der kleinen Sekunde, großer Sept und kleiner None vor allem die Intervalle der übermäßigen Quart, verminderter Quint und reinen Quart und Quint hervortreten. Die Segmente sind durch eine große Sext (erstes und zweites Segment) bzw. kleine Terz (zweites und drittes, drittes und viertes Segment) getrennt, die nur auf diesen inneren Grenzpunkten erscheinen. Die Reihe ist symmetrisch in zwei gleiche Teile zu je sechs Tönen geteilt: Das Symmetriezentrum befindet sich zwischen dem sechsten (e) une siebenten (cis) Ton im Kleinterzabstand. Eigentlich stellt die zweite Hälfte der Reihe eine Transposition um eine kleine Terz abwärts der Krebsform (horizontale Umkehrung) der ersten Hälfte dar, mit Umkehrung der Intervalle. Eine merkwürdige Kombination der Zwölftontechnik mit dem tonalen Verfahren der Intervallumkehrung.

Ist die Polyphonie nicht die am meisten überlegte und ausgearbeitete Komponente der Zwölftontechnik? Steht sie nicht in der Wurzel des Systems? Erinnern der erste, zweite, vierte und fünfte Ton der Reihe (b-a-c-h) nicht an Bach und seine Choräle? Und der zweite, dritte, vierte und fünfte Ton (a-es-c-h) an das Monogramm Schnittkes (A. Sch.) und seine Werke?

Hat die Zwölftonreihe aus Schönbergs Bläserquintett Op. 26 nicht eine in zwei Sechstönegruppen teilbare Struktur, wovon die zweite Gruppe fast eine Quinttransposition der ersten darstellt? Hat vor allem Webern nicht solche Reihen gebaut, die aus mehreren ständigen Gruppen von drei Tönen zusammengesetzt sind (Op. 24 - Dreitönegruppen aus entgegengesetzt gerichteten großen Terzen und kleinen Sekunden), oder von vier Tönen in spezifischen mikrostrukturellen Beziehungen (Op. 30)?

Zwei symmetrische, parallele Welten, eine umgekehrt in Bezug auf die andere, bilden diese Reihe, den zwölftönigen cantus firmus des "choralartigen" zweiten Themas und des gesamten Konzerts für Bratsche von Alfred Schnittke. Die Welt Bachs, Schönbergs oder Weberns, und die Welt Schnittkes?

Das Symmetriezentrum des ganzen Tonraumes, aufgrund welchen die Reihe konstruiert ist, befindet sich im Rahmen der chromatischen Tonleiter zwischen den Tönen gis und a (Bsp. 4), den gleichen mit welchen der "Kopf" des ersten Themas und das Konzert angefangen haben.

Gleiche rhythmische Werte haben die Töne 1. und 12., 3. und 10., 4. und 9. (Analogone) der Reihe. Eine sporadische, nur teilweise durchgeführte Symmetrie der rhythmischen Komponente.

Der zweite und dritte Satz des "Kerns" des zweiten Themas sind durch den gemeinsamen melodischen Ablauf verbunden; er läuft durch die Töne der in sich ebenfalls symmetrischen Krebsform der Reihe. Ein neues Symmetriezentrum, diesmals des gesamten "Kerns", der gesamten Periode des zweiten Themas, befindet sich zwischen dem ersten und zweiten Satz. Ein neuer Kreis, neue Abschließung. Die Symmetrie läuft in konzentrischen Kreisen oder Spiralbewegung der melodischen Linie, und dabei öffnet und schließt sich die Reihe einmal wie ein "Fächer".

Der dynamische Plan der ganzen Periode ist ebenfalls symmetrischkrebsgängig eingemauert.

Es ist merkwürdig, daß die Krebsform der Reihe zwei Einheiten bildet - den zweiten und dritten Satz. Jedoch spielt die melodische Komponente keine ausschlaggebende Rolle bei der Segmentierung dieses Abschnittes in zwei Sätze. Neben dem Akkordverlauf gebührt die Hauptrolle in der Trennung dieser Einheiten der rhythmischen Komponente - dem Signal für den Anfang und zugleich Schluß aller drei Sätze - einem Ton, der im Solopart einen ganzen Dreivierteltakt und noch ein Viertel dauert, und auch der dynamischen Komponente im Streicherchor, welche nur an diesen Grenzstellen präzis (durch verbale Abkürzungen) angegeben ist. Die Sätze verbinden sich kattenartig, sie fließen einander über im gleichen Takt, am gleichen Ton, Schluß der vorhergehenden und Anfang der nächsten syntaxischen Einheit.

Der ganze "Choral" steht im Dreiviertelmetrum, was ihm eine gewisse Stabilität und Ruhe verleiht, während das Metrum im ersten Thema von Takt zu Takt gewechselt hat, so zum Eindruck der Taktlosigkeit, des Schwankens, der Fluidität der Pulsierung, der Unruhe beitragend.

Das vertikale Geschehen im "Choral", sowohl die akkordische "Choral"begleitung als auch die zwölftönige "Choral"melodie betrachtend, besteht aus Dreiklängen, Dreiklängen mit hinzugefügten Tönen, halbverminderten, großen und kleinen Mollvierklängen - also aus Akkorden tonaler Provenienz (eingerechnet die enharmonischen Verwechslungen, die solchen Aufbau der Vertikale "tarnen" mögen), welche im Rahmen einer erweiterten Tonalität gedeutet werden können. Die Akkorde sind auch so miteinander verknüpft, daß jeweils ein Ton aus dem vorhergehenden im folgenden Akkord beibehalten wird. Eine Durchdringung von tonaler und modaler mit der atonalen Denkart.

Hat auch Berg nicht auf ähnliche Weise das Thema seines Violinkonzertes konzipiert (unorthodoxe Zwölftonreihe und freie atonal-serielle Technik in Durchdringung mit dem tonalen melodischen und harmonischen Denken)?

Interpolierung des Materials aus dem ersten Thema. Solobratsche allein. Periode aus zwei Sätzen - 4 + 4. Beginnt wie der "Choral". Aber es wird eine melodische Linie entwickelt, die derjenigen aus dem Viertakter des ersten Satzes aus dem ersten Thema, jetzt erweitert, ähnlich ist. Ein neues Element: die Tonwiederholung im zweiten Satz - das künftige "Schicksalsmotiv".

Als ob in der Zeit unterschiedliche parallele Abläufe bestehen würden - ohne jegliche Unterbrechung der Kontinuität. Störungen der Erinnerung? Transformation, Vermischen, Verknüpfen...

Kontrapunktische Verbindung des ersten und zweiten Themas. Einheit des bizentrischen Bereiches. Möglichkeit verschiedener Akzentuierung und Bildung größerer oder kleinerer Spannung zwischen zwei Mittelpunkten - zwei Erinnerungen - zwei Achsen, um welche Gefühle und Gedanken kreisen. Fragmentarische Struktur - 1 + 4 + 4 + 5 (Bsp. 5). Erster Takt - Solobratsche allein - zerlegte Intervalle der großen Sept und zwei kleinen Nonen aufwärts (gis-g-gis-a) - der Uranfang. Und dann - eine Eruption des gesamten Orchesterklanges. Schichten. Erste Schicht, aus dem ersten Thema hervorgegangen - Streicher: Die Vertikale enthält zum ersten Mal alle zwölf Töne der chromatischen Skala; die Horizontale ebenfalls. Zweite Schicht - Solobratsche: Chromatik - wie eine "unendliche Melodie". Dritte Schicht - 4 Hörner, 4 Trompeten, Posaunen, Glocken, Cembalo: Das Thema/die Reihe des "Chorals" im Kanon - abwechselnd zuerst das symmetrische erste, dann das vierte, nachher das zweite und zuletzt das dritte Segment (das vierte und dritte als Krebsgang des zweiten Teils der Reihe). Vierte Schicht - Kontrafagott, Tuba, Klavier + Baßklarinette, Fagott + Englischhorn, Klarinette, Baßklarinette, Oboe: Intervallschritte ähnlich dem Bratschenpart aus dem "Choral" - wie eine Gegenstimme zum Thema/Reihe. Fortwährende unbezeichnete horizontale und vertikale Polyrhythmik und Polymetrik. Abklingen und Verschwinden im Klang der großen Terz f-a des künftigen F-dur.

Dritte Erinnerung - Drittes Bild - Drittes thematisches Material

Ein neues emotionelles Element (Bsp. 6a). Mit seiner Kraft überflügelt es an Bedeutung sowohl das erste wie das zweite Thema. Ein Satz - 2 + 4 (2 + 2). Die beiden ersten Zweitakter - die Tonalität in ihrem vollen Glanze - F-dur: Dominante - Tonika, Dominante - Tonika. In der Solobratsche - "das Zitat" - unmißverständliche Anführungszeichen für etwas, das überhaupt kein Zitat sein mag, jedenfalls keine wörtliche Anführung. Ein Triller. Schluß der nicht existierenden oder nicht gespielten, aber im inneren Gehör gehörten solistischen Kadenz - der "lange" Triller auf der Dominantharmonie. Eine irreale Solokadenz und ihr realer Abschluß vor dem Epilog der Exposition, nicht wie üblich vor oder innerhalb der Koda des ganzen Sonatensatzes. Während dessen pausiert das Orchester, ausgenommen das Fagott, die Baßklarinette und das Englischhorn, die für die Betonung der tonalen Harmonie nötig sind. Jedoch erscheint ein Rudiment von Etwas, das später allmählich als Zitat sich herauskristallisieren wird (Bsp. 7) - erster Zweitakter des ersten Themas aus dem ersten Satz von Beethovens Klaviersonate Op. 2 No. 3 in C-dur, oder möglicherweise der letzte Zweitakter aus dem ersten Satz von Op. 14 No. 2 in G-dur. Die Haupttöne des "Zitats", das noch kein eigentliches ist, die Töne b und a, sind die beiden ersten Töne der Reihe aus dem "Choral" des zweiten Themas. Der dritte Zweitakter bringt die Fortsetzung des Themas/der Reihe des "Chorals", seines ersten Teils - es-c-h-e. Gleichzeitig spielt sich eine augenblickliche Umdeutung aus der Tonalität in die Atonalität ab mittels des symmetrischen, aus der übermäßigen, reinen und übermäßigen Quart gebildeten Akkords (e-b-dis-a), was ein Verfahren des Autors für den Austritt aus der Tonalität darstellt.

Die Welt Beethovens und die Welt Schnittkes? Zwei anscheinend parallele, gegeneinander umgekehrte Welten aus verschiedenen Galaxien? Ein musikalischer Gedanke, gleichzeitig aus mehreren Fäden unterschiedlichen musikalischen "phylogenetischen" Alters verflochten?

Hat nicht mit der einmaligen Figur Beethovens, nach Adorno, die Freiheit in der Musik angefangen, in welcher das Wesen der Tonalität seinen Höhepunkt erreicht hat? Identifiziert sich nicht, andererseits, in der musikalischen Aussage Beethovens, der alles Zufällige, Unverbindliche, Flüchtige fremd ist, die Kraft des Systems (beziehungsweise der Weltanschauung) mit der künstlerischen Erfahrung? Ist Beethoven nicht zugleich nachgiebig und unnachgiebig, durchlässig und undurchlässig?

Ist in der Musik durch die Musik selbst möglich, eine Umkehrung der Folge von Geschehnissen der Musikgeschichte hervorzurufen? Inwieweit und auf welche Weise ändern sich dann alle Beziehungen, wenn der Zeitablauf sich umkehrt?

Eine von den ältesten Fragen, den ältesten Aporien - wer oder was von wem entsteht, was ist das Erste, und was das Zweite? Was wem vorausgeht? Sind das Erste und Zweite überhaupt etwas Verschiedenes? Oder immer etwas Anderes? Das andere Ich? Oder das dritte? Erinnerungen... Das Dritte führt immer eine überflüssige veränderliche Größe ein.

Epilog. Die Abrundung. 2 + 2 (Bsp. 6b). Die beiden ersten Zweitakter vom Anfang des Konzerts. Jetzt, beide Male, Intervall der kleinen None. Ein Sprung ins Unendliche. Zum ersten Mal ein Cluster in den Streichern: Im ersten Zweitakter innerhalb der übermäßigen Quart, im zweiten - im Rahmen der kleinen None. Chromatisches Total.

Einmündugen. Unausgesetzte. Mein Schluß ist auch mein (neuer) Anfang.

Hier und jetzt. Das Kontext - ein mosaikhaftiges Ganzes, dessen polyvalente Semantik die Raum-Zeit-Einheit durchzieht. Die Wechselbeziehung der Mannigfaltigkeit - gleichberechtigtes Miteinander einer Vielfalt von verschiedenen musikalischen Elementen - ist ein Resultat der historischen Eröffnung im Gedächtnis eines intelektuellen Robinsons, der, in sich selbst geworfen, auf seiner gewünschten Insel, in der Musik und durch die Musik seine Wahrheit und die von ihr verlangten Instrumente abändert. Seine Wahrheit der Vergangenheit des Gegenwärtigen. Und seine Wahrheit jeder Gegenwart der beliebigen Vergangenheit. Dabei trachtet er nicht, Kontinuität mit der Vergangenheit herzustellen. Für ihn ist die Kontinuität eine Unumgänglichkeit. Auch im Sinne der Diskontinuität in der Kontinuität - der verschiedenen, sich einander durchschneidenden parallelen Abläufe, ohne daß im Bewußtsein ein Abbruch der Kontinuität entsteht. Sowohl auf dem Mikro- wie Makroplan. Ebenso, ist für ihn die Geschichte keine Grube aus welcher alle Inhalte auf chaotische Weise evoziert werden könnten, aus welcher jede frühere Geschichte, ohne Unterschied, wieder aufleben könnte, in welcher alles gleichen Wert hätte und rücksichtlos vermischt werden könnte. Er besitzt eine vital kräftige Idee, welche, gemäß seinen Kriterien und der Schärfe seines Verständnisses und Erinnerungserlebnisses, eine strenge Auswahl macht.

Die Brücken bestehen, aber sie sind unsichtbar/ungesehen und unhörbar/ungehört.

Die tragenden Pfeiler, die Schlüsselpunkte der Geschichte des musikalischen Denkens, die Stellen wo sie fest zusammengezogen wird, sind für ihn unzweideutig die ersten Anfänge der musikalischen Äußerung, eigentlich ihr Wesen im allgemeinen, dann die Anfänge der Polyphonie, und weiter Bach, Schönberg, Webern, Berg, Beethoven, Schostakowitsch... in jenem Hier und jetzt oder durch jenes Hier und jetzt - durch meine Musik. Bei dem ersten, flüchtigen "Durchlesen" könnte man den Anschein haben, als ginge es um "Notizen" ohne größeren Wert und Bedeutung. Doch macht die Musik Schnittkes die historische Zeit durchsichtiger, und die Wunder der Übereinstimmung geschehen. Angesichts der Ausstrahlung der Durchsichtigkeit der Dinge und des Abglanzes ihrer anscheinend grundlosen Übereinstimmungen, wie Svetlana Velmar-Jankovi} es sagen möchte, erscheint Schnittkes musikalischer Vorschlag für ein neues, aufgeklärtes Lesen der Musikgeschichte als eine Reihe von Aufzeichnungen ihrer inneren Wirklichkeit. Als etwas was hinter ihrer chronologischen Tatsachen, ihrer Stiletappen... steht, als etwas hinter der Maske, hinter der Pose, hinter der Schale. Als ein aufregendes Forschen nach neuen Denkweisen.

AUF DER SUCHE NACH DER VERSCHWUNDENEN ZEIT

Zweiter Satz - Allegro molto - Re-Memorieren

Ante scriptum. Der zweite Satz entspricht am meisten den Merkmalen einer Sonatendurchführung. Die thematischen Materialien aus dem ersten Satz werden in ihm verarbeitet, ab- und wieder aufgebaut, transformiert, auf verschiedenste Weisen kombiniert. Kein neues thematisches Material erscheint. Die Durchführung, anscheinend collageartig, besteht aus dreizehn durch Montagetechnik aneinandergereihten Abschnitten, die jedoch zu bestimmten Phasen des musikalischen Ablaufs gruppiert werden können - 4 + 4 + 2 + 1 + 1 + 1 (I: 1-4; II: 5-8; III: 9-10; IV: 11; V: 12; VI: 13) - insgesamt sechs Etappen, wobei die letzten drei Abschnitte je eine Etappe darstellen. In jeder Phase sind alle drei thematischen Materialien vertreten, außer in der zweiten und vierten Etappe, wo das dritte Material fehlt. Global gesehen, dominiert in der ersten Etappe das zweite Material, in der zweiten das erste, in der dritten das dritte, in der vierten werden gleichberechtigt das erste und zweite verwendet, und in den beiden letzten Etappen haben alle drei Materialien gleiche Bedeutung. Der 1., 5., 9., 11. und 13. Abschnitt (die Anfangsabschnitte der I., II. und III. Phase und die IV. und VI. phase) korrespondieren miteinander. Es scheint, als ob sie Teile einer Ganzheit mit erhöhter Tension seien, dessen Verlauf durch andere parallelen Abläufe durchschnitten wird. Der grundlegende Bindfaden findet sich im Part der Solobratsche, der als ein fortwährender ostinater Band gebaut ist (aufgrund eines Eintakt-Modells mit gebrochenem Akkord und Tonwiederholung, und seiner Varianten und Traspositionen), in ununterbrochener Sechzehntelbewegung. Dieses Ostinato bleibt im dreizehnten Abschnitt aus, der eigentlich mit dem neunten in Verbindung steht. Anders gesagt, der 9. und 13. Abschnitt gehen teilweise aus dem 2. hervor, mit welchem sie ein gesondertes Ganzes - einen parallelen Ablauf - darstellen. Offenbar haben sich im 9. und 13. Abschnitt zwei verschiedene Abläufe gekreuzt. Ebenfalls korrespondieren der 4. und 8. Abschnitt, die Endabschnitte der ersten und zweiten Entwicklungsetappe (gleiche chromatische Bewegung - das Ostinato-Modell im Streicherchor bzw. in der Solobratsche). Die Abschnitte innerhalb bestimmter Etappen im Aufbau des zweiten Satzes werden auf verschiedene Art miteinander verknüpft. Zum Beispiel sind in der ersten Etappe alle Abschnitte und ihre verschiedenen Schichten gemäß dem Prinzip der Symmetrie und der Krebsbewegung aufgebaut, sowohl in der Organisation der Horizontale, der Vertikale, der Faktur, als auch in der syntaxischer Organisation, was diese Etappe mit dem zehnten Abschnitt, dem Schwerpunkt des Satzes, verbindet. Der rhythmische Faktor in der Verbindung der Abschnitte ist zwischen dem 2. und 3., sowie 7. und 8. Abschnitt evident, die wie Nebenflüsse zu ihrem Hauptstrom - dem 9. Abschnitt - streben, genauer gesagt zur gesamten dritten Entwicklungsetappe. Identische Weise der Töneschichtung zum Cluster verbindet den 4., 5. und 6. Abschnitt, usw. Ein Netz von mannigfaltig gekreuzten Beziehungen und Bindungen. Symmetrisch strukturierte Abschnitte, wie der 8. und 12. (Kadenz der Solobratsche), die den Höhepunkten des Satzes vorangehen, sind selten. Die Satz- und Periodenstruktur dominiert. Die "dynamische Kurve" im zweiten Satz zeigt ein ständiges Pendeln im Rahmen der nachdrücklich erhöhten Spannung. Somit ist fast jeder Lokal- oder Zentralhöhepunkt teilweise zugleich Klimax und Antiklimax im semantischen Sinn. Der erste zentrale Höhepunkt befindet sich im 6., der zweite im 10., und der dritte im 13. Abschnitt.

Schematische Darstellung des II. Satzes

Die Technik des Bewußtseinsablaufs. Das innere Bewußtsein von der Zeit. Die Odyssee dieses Bewußtseins. Re-Memorierung aufgrund des ersten Satzes und in Bezug auf ihn. In Bezug auf die schon "ehemalige" Position. Abermalige Memorierung, oder Verwendung, neue Betrachtung der Erinnerungen aus dem ersten Satz - das ist nur eine Vergrößerung der Grenze. Zurückführung auf sich selbst, oder besser gesagt Vergrößerung in sich selbst...

Destruktion. Dekonstruktion. Die Erinnerungen werden in ihre Teile oder ihre Elemente gespalten. Sie werden zu selbständigen Entitäten - Motiven, Modellen, Signalen, fortwährend im Spiel anwesend. Die Andenken. Sie bewegen sich, entfernen und nähern, verlangsamen und beschleunigen, verflechten. Nachspüren. Anscheinend verschwinden. Die Knotenpunkte ihrer "Begegnungen", sei es aus verschiedenen oder gleichen Erinnerungen, sind immer wunderbar neu. Jeder Durchgang durch einen Knotenpunkt - neue Vergrößerung. Neue Visur. Ein Kaleidoskop. Und doch nichts wesentlich Neues. Die kombinatorischen Fähigkeiten des "Systems" des Funktionierens der Erinnerungen sind groß. Imaginative Strenge ist ihr Gesetz.

Die Verfahren und Techniken von welchen sie bewegt, geführt, organisiert werden, welche den musikalischen Ablauf bestimmen, sind ebenfalls der Vergrößerung unterworfen. Sie vervielfältigen sich. Zu einem Netz verzweigen. Unter sich auf verschiedenste Weisen kombinieren. Motivische Arbeit - Wiederholung, Variierung, Erweiterung, Aufspaltung, Verkürzung. Aufspaltung und Verkürzung in Augenblicken der psychologischen "Beschleunigung" des musikalischen Geschehens. Transformationen. Aufstellung von Modellen. Transpositionen. Augmentieren, Diminuieren. Krebsgänge, Umkehrungen. Nachahmungen. Orgelpunkt. Ostinatos. Vervielfachung der ostinaten Linien. Ostinate Bänder der verschiedenen Erinnerungen, deren simultane Abläufe mit unterschiedlichen Schnelligkeiten vor sich gehen. Innerhalb derselben - mannigfaltige Phasenverschiebungen, die zu Akzentversetzungen, anderen "Beleuchtungen", verschiedensten metrischen und rhythmischen Verschiebungen Anlaß geben. Polymetrik und Polyrhythmik - vertikal und horizontal - meistens unbezeichnet. Signale der Anfänge und Schlüsse der syntaxischen Strukturen und Abschnitte - der "Kopf" der ersten Erinnerung. Signale des Schlusses - Akkord aus kleiner Sekunde und übermäßiger Quart, auch die chromatische Tonleiter in kleinen Notenwerten in der Horizontale, aus der ersten Erinnerung; Rudiment des "Schicksalsmotivs" aus der Interpolation der ersten in die zweite Erinnerung; symmetrischer Akkord als Mittel der "Modulation", der "Rückung" aus der Tonalität in die Atonalität aus der dritten Erinnerung (jetzt kann das in der Vertikale auch eine Tonfolge aus irgendeiner Dur-Moll-Skala sein); Clusters und das chromatische Total aus dem Epilog. Aufbau von Sätzen und Perioden. Satzketten wie in der zweiten Erinnerung. Mehrschichtigkeit. Im größten Teil des musikalischen Verlaufs sind gleichzeitig drei Schichten gegenwärtig, wie in der ersten Erinnerung, oder vier, wie in der kontrapunktischen Verknüpfung der ersten und zweiten Erinnerung aus dem ersten Satz des Konzerts. Die Orchestration ist unlösbar mit der Behandlung aller musikalischen Faktoren des Werkes verbunden. Herbheit der Tonfarbe, Rauheit der Schläge, Ausgespartheit des melodischen Gewebes, Transparenz der Vertikale, Wechseln der Perspektive... und umgekehrt. Fast alle Orchestergruppen können alles sein, abhängig vom Kontext: in Funktion der Vertikale, Horizontale, Farbe, des Schlages...

Symmetrie. Ein unter den dominierenden Bauprinzipien des Mikroplans im musikalischen Ablauf. Das Wesen der zweiten Erinnerung. Spiegelsymmetrien. Es gibt aber nicht nur ein Spiegel. Die Spiegel befindenssich auf verschiedenen Plätzen. In der Horizontale und Vertikale, auch zwischen beiden. Mehrere Spiegel zugleich, in der gleichen oder in verschiedenen Fakturschichten. Allerorten, wo wesentliche Beziehungen aufgestellt werden: die sind wesentlich gerade dank den Spiegeln. Die Spiegelungen werden fortwährend vergrößert. Aber zusammen mit den Beziehungen. Das heißt, wir sehen immer, sei es sukzessiv oder simultan, die reale Welt und ihre Widerspiegelung - den Schein. Die Welt und ihr umgekehrtes Bild. Camera obscura. Die Symmetrien sind nicht immer konsequent. Einerseits können gewisse Töne oder Tongruppen unterlassen, "herausgeschnitten" werden; andererseits können sie eingeschaltet werden (meistens als Wiederholungen eines Tones oder einer Tongruppe - sofortig oder im Abstand). Das geschieht aus syntaxischen Gründen. Der spontane und logische musikalische Ablauf wird nie einer strengen, unerbittlichen Symmetrie geopfert. Wie bei Bartók. Abhängig von der Schicht und dem Parameter kann gleichzeitig eine strenge und eine "freie" Symmetrie stattfinden. Das Wesentliche ist auch in der Abweichung.

Das Zitat. Zweiter Abschnitt des zweiten Satzes (Bsp. 8). Periode aus drei Sätzen - 9 + 5 + 8. Der erste und dritte Satz sind aus drei Schichten gebildet, über dem ausdauernden Orgelpunkt auf b (2. und 4. Horn), der am Ende des dritten Satzes in der 4. Posaune chromatisch nach g absinkt. In der ersten Schicht des ersten Satzes (1. Horn) wird die Krebsform des ganzen Themas/Reihe des "Chorals" exponiert, welche jetzt erstmalig auf eine neue Tonhöhe transponiert wird (eine kleine Terz aufwärts). In der zweiten, ausschließlich homophonen Schicht (Streicher und Klavier) treten bitonale Akkorde b-des-d-f (zugleich B-Dur und b-Moll), es-e-g-b-h (zugleich Es-Dur und e-Moll), und am Ende der Ces-Dur-Dreiklang auf. Die dritte Schicht wird von der Solobratsche gebildet; es spinnt sich eine melodische Linie aus, zweimal durch die Zerlegung des B-Dur-Akkordes unterbrochen. Diese Melodie, die einzige "Unbekannte" im ganzen Konzert, befindet sich im Grenzgebiet zwischen einer möglichen Umformung des "Chorals" und einem möglichen"Zitat". Im gesamten Kontext - Schnittke im Stile Beethovens. Abgetrennt - "Zitat". In diesem Sinne, das "Zitat" (Beethovens Welt) wird allmählich eingeführt, und die eingeschobene Brechung des B-Dur-Dreiklangs wird, wegen des schnellen Tempos und der vertikalen Zusammenklänge, als ein fremdes Körper aus einer anderen (Schnittkes) Welt empfunden. Absurd der Umkehrung? Wunderbare Geschichte von der Molekularität und Unbemerkbarkeit, wo Alle einander durchdringen und sich mischen können, ihre Identitäten wechselnd?

Die erste Schicht des dritten Satzes ist eine Krebsform der ersten Schicht des ersten Satzes, bzw. die transponierte Grundform des Themas/Reihe des "Chorals". Zuerst die Welt im Spiegel, und dann die Welt selbst, oder die Welt aus dem Spiegel (oder besser gesagt, die Welt, welche aus dem Spiegel hervortritt). Doppelte Umkehrungen. Man muß nicht vergessen, daß die Reihe selbst symmetrisch ist. In der zweiten Schicht Es-Dur und es-Moll-Akkord zugleich, wie auch Des-Dur und d-Moll. In der dritten Schicht scheint der Krebsgang von einzelnen Teilen des Soloparts zu beginnen - zuerst die etwas abgeänderte melodische Linie, dann der zerlegte Akkord (jetzt Es-Dur-Dreiklang - "subdominantisches" Gebiet).

Wie ein Feld durch welches die Symmetrieachse des ersten und dritten Satzes geht, wo sich diese beiden Sätze sozusagen überlagern, bringt der zweite Satz eigentlich die Fortsetzung der Bratschenmelodie aus dem ersten Satz, aber sie wirkt hier, in ihrer augenblicklichen Umgebung - sie ist nämlich vollkommen tonal harmonisiert (in Ces-Dur und es-Moll) - als ein richtiges "Zitat", oder als ein "Zitat" das noch keines ist, sondern die nächste, zweite Phase seiner Kristallisierung darstellt. In Bezug auf die dritte Erinnerung scheint es, als ob vom Schluß der "ehemaligen" Position - dem Triller - Anfang nehmend und zum Anfang zurückkehrend, ein Teil der solistischen Kadenz beigefügt sei. Der zweite Satz schließt mit der Verlegung der Horizontale in die Vertikale ab (die ersten fünf Töne der es-Moll-Tonleiter sukzessiv und simultan - das Signal des Schlusses, "Rückung" aus der Tonalität in die Atonalität).

Der neunte Abschnitt im zweiten Satz des Konzerts. Dritte Etappe der Kristallisation der dritten Erinnerung, oder vielleicht eher des Nachspürens nach derselben. Alle drei Themen. Ein grotesker Walzer in der Art Prokofjews, Strawinskys oder Schostakowitsche. In das musikalische Gewebe dringt allmählich das "Zitat" hinein, wird hörbar und erkennbar. Zum ersten Mal im Horn (mf) am Anfang des Abschnitts, wie ein vergrößertes Fragment der melodischen Linie aus dem zweiten Abschnitt - als eine andere Form der dritten Erinnerung (Bsp. 9a). Es wirkt eher als ein transformiertes Fragment des Themas/Reihe des "Chorals". Zum zweiten Mal in der Flöte (p sub.) über der Hornmelodie (ihrem zweiten Satz), wie aus der Ferne, fast unhörbar, wie die modifizierte erste Form - die dritte Erinnerung aus dem ersten Satz (Bsp. 9b). Kontrapunktische Verquickung der ersten und zweiten Form der dritten Erinnerung. Zum dritten Mal in der Klarinette (mp - dritter Satz - Bsp. 9c) - eine Variante der Hornmelodie, wie auch bei dem vierten Mal im Englischhorn (p - innere Erweiterung des Satzes in der Klarinette - Bsp. 9d) und der fünften Erscheinung im Solo-Cello (mp - vierter Satz - Bsp. 9e). Die Wendungsstelle. Und dann, am Ende dieses Abschnitts, endlich das Zitat (Bsp. 10) - in der Form die am meisten an die Klaviersonate Op. 2 No. 3 von Beethoven anspielt, an den Anfangszweitakt des Hauptthemas des ersten Satzes. Eine Periode aus zwei Sätzen - 4 (2 + 2) + 5 (2 + 3). Das Zitat wird zuerst von der Flöte gebracht, dann von der Solobratsche (erster Satz), später von der Klarinette und wieder von der Solobratsche übernommen (zweiter Satz). Es ist tonal harmonisiert: zweimal Dominante - Tonika in Des-Dur im ersten Satz (1. Horn und Streicher), und im zweiten als Dominante - Tonika in C-dur (Bratschen und Celli), erstmals in der Tonalität der Sonate Beethovens.

Plötzlich, wie ein"scherzhafter" Schluß des parodierten Walzers, im äußerst reduzierten Orchesterklang -aber umso stärker, in der p-Dynamik - aber umso hervortretender, ohne Lärm - aber desto klarer und unzweideutiger - ist die dritte Erinnerung gefunden. Die Schleier sind abgefallen, man ist zu ihr durchgedrungen, und sie setzt in Bewegung, wie die "madeleines" bei Proust, eine völlig andersgeartete, wunderbar zauberhafte Welt mit enormer Gefühlsladung. Eine Welt, wo das emotionelle Bewußtsein völlig bloßgestellt hinströmt.

Der zehnte Abschnitt des zweiten Satzes. Im Leben geschehen manchmal seltene Augenblicke, in denen die eigene Sinnlosigkeit durch ein starkes und authentisches Erlebnis überwältigt wird, ein außerordentliches und privilegiertes Erlebnis, welches ebenso tragisch wie heiter sein kann. Seltene Augenblicke, denen Ingarden eine "metaphysische Qualität" zuschreiben würde. In ihnen denkt man an nichts, erinnert man sich an nichts, versucht man nicht, in die Zukunft hineizugucken. Befreit von den Erinnerungen und Gedanken, atmet der Mensch einfach auf, lächelt und (oder) weint. Das Erlebnis verfließt im Atmen, überflutet und vertilgt alles Andere. Es ist bläulich. Nebelhaft. Schwebend. Irgendwo vor oder über dem Leben. Und doch irgendwie bekannt. Flimmernd. Leuchtend. Ohne jedwede Grenzen. Einer von solchen Augenblicken ist auch dieser im Schnittkes Konzert. In seinem Wesen tragisch.

Ein Satz - 4 + 4 (8) = a. Ein zweiter - 8 (2 + 2 + 4) = b. Der nächste - 8 (2 + 2 + 4) = b1. Der letzte - 2 + 2 + 4 (8) = a1. Der ganze Abschnitt im Bsp. 11. Die Symmetrieachsen: Zwischen a und b (der zweite Satz als Krebsgang des ersten); zwischen b und b1 (der dritte Satz ist die Krebsumkehrung des zweiten); zwischen b1 und a1 (der vierte Satz gleich dem Krebs des dritten). Noch eine Symmetrieebene in der Mitte des ganzen Abschnitts, zwischen b und b1, weil b1+a1 die Krebsumkehrung von a+b darstellen. Ein Labyrinth von Tönen-Spiegeln, die nirgends führen. In sich geschlossen, undurchlässig. Aber der zentrale Spiegel, der in sich auch die Reflexe der anderen bricht, scheint damit an Tiefe zu gewinnen. In ihm ist die Welt nicht auf eine einzige Dimension reduziert, sondern wie die reale Welt mehrdimensional.

Das Modell ist ein Zweitakter. Er ist das Wesentliche. Das Sublimat des gesamten Konzerts. Ein Mikrokosmos. Der ganze zehnte Abschnitt ist auf diesem Zweitaktmodell aufgebaut. Seine erste Schicht bildet der Bratschenpart, der das Zitat in seiner ersten Form (aus dem ersten Satz des Konzerts) bringt, in a und a1 mit der Schlußbewegung abwärts, und in b und b1 mit der Schlußbewegung aufwärts, welche aus seiner zweiten Form (aus dem zweiten Abschnitt des zweiten Satzes) abgeleitet sein kann. Während des ganzen Abschnittes wird das Zitat immer von der Solobratsche getragen. In der gleichen Schicht mit dem Zitat läuft auch seine kanonische Nachahmung in der Unterquint ab (a = Kontrabaß solo; b = Posaune con sordino; b1 = 1. Violoncell; a1 = Altflöte) getreu in a und a1, abgeändert in b und b1 (erkennbare melodische Linie aus der zweiten Etappe der Kristallisation des Zitats - aus dem zweiten Abschnitt des zweiten Satzes, besonders wenn man die ganze Imitationslinie der Posaune in b ins Auge faßt). Die zweite Schicht, die harmonische Schicht des Zitats, bringt Brechungen von Vier- und Dreiklängen in ständiger, gleichmäßiger Achtelbewegung (das Metrum des ganzen Abschnitts ist 12/8) des Klaviers (linke Hand) während der gesamten Dauer dieses authentischen Erlebnisses. Momentane, direkte Anspielung an den ersten Satz der Klaviersonate Op. 27 No. 2 (Sonata quasi una fantasia) von Beethoven (Akkordbrechungen im Triolenrhythmus). Mittelbar, auch eine Anspielung an den dritten Satz der Sonate für Bratsche und Klavier Op. posth. 147 von Schostakowitsch. Dieser harmonische Aspekt des Zitats spielt eine wichtige Rolle für die mikro-strukturellen Beziehungen innerhalb der Sätze. Deshalb ist die Struktur des ersten Satzes 4 + 4. Die gleiche Struktur würde auch der vierte Satz haben, eine Symmetrie würde im Strukturplan des ganzen Abschnitts hergestellt werden, falls nicht der "Kopf" der ersten Erinnerung eingeführt würde. Die dritte Schicht, als ein sich allmählich weiternder Hintergrund, wird von den Streichern (Flageolette), Glockenspiel und Harfe gebildet, besteht also aus Tonfarbe. Jeder neue Ton des Hintergrundes wird immer auf der gleichen Stelle hinzugefügt, und zwar im zweiten Takt des Modells (d.h. im 2., 4. und 8. Takt eines jeden Satzes) - als Signal seines Schlusses. Dabei bleibt jeder neue Hintergrundston bis zum Ende des Abschnitts in den Streichern liegen. Im letzten Takt des ersten Satzes erscheint ein Element, das sich im jeden folgenden Satz rückwärts ausbreiten wird, vom Satzende dem Anfang zu - eine chromatische Bewegung (nur im ersten Satz ist sie diatonisch), bis endlich die ganze chromatische Skala in der Horizontale konstituiert wird (Kontrabässe; Pikkoloflöte und Klavier, rechte Hand; Klavier und 1., 2., 3., 4. Bratsche; Celesta, Flexaton und Vibrafon), mit Vorschlägen, Trillern, Tremoli und Glissandi "gefärbt", und auch in der Vertikale - bewegte und liegende Clusters und chromatisches Total, die einerseits einen koloristisch stabilen, andererseits einen koloristisch vibrierenden, unbeständigen Orchesterklang bilden, und auch dritterseits einen mit Schlägen, ebenso in Farbfunktion. Gleiche Anzahl und gleiche Funktion der Schichten, gleiche Entwicklung, Erobern des Raumes/der Zeit, wie in der ersten Erinnerung des ersten Konzertsatzes. Und wahrlich, der "Kopf" der ersten Erinnerung ist da, als Anfangssignal des ersten Satzes. Da ist auch, aber vom allen Anfang des Abschnitts, das Thema/die Reihe des "Chorals". Gut versteckt. Enigmatisch. Der erste und letzte Ton des Zitats in der Solobratsche, wie auch jeder neue Hintergrundston im jeden Zweitakter-Modell stellen ein Segment der Reihe dar. Eigentlich werden der gesamte Verlauf des Abschnitts und alle (obwohl nicht immer konsequente) Symmetrien von dem Thema/Reihe des "Chorals" bestimmt. Unaufhörliche, allmähliche Aufwärtsbewegung, ebensolche steigende Kompliziertheit des Orchesterklangs, immer stärkere klangliche "Reibungen" und immer häufigeres und intensiveres koloristisches "Flimmern" eines scheinbar "eingefrorenen" Zustandes "platzen" endlich in ff-Dynamik auf, mit einem Glissando im ganzen Orchester. Der Höhepunkt, aus mehreren, immer auf höherem Spannungsniveau durchgeführten Steigerungswellen hervorgegangen, findet somit am Ende des Abschnittes statt und umfaßt auch den folgenden, elften Abschnitt.

Mit dem Durchgang durch den Mittelpunkt, in welchem alle Zeiten, Erinnerungen, Gedanken und Gefühle sich kreuzen, hat sich die Visur völlig verändert. Der Augenblick des Austritts aus diesem einzigartigen, magischen, von Allem was sich außerhalb ihm befindet geschützten Feld ist drastisch. Destruktiv. Im ersten Moment (elfter Abschnitt), ein scharfer und stürmischer Versuch zum Alten zurückzukehren, zum Anfang des zweiten Satzes. Ablehnung. Und gleich darauf, unerwartet, Annehmen. Scheinbar still, versöhnlich. Aber in der Tat, alles ist nur unterdrückt - die Kadenz der Solobratsche - Dekonstruktion am Werk, gefolgt vom "Schicksalsmotiv". Alles was vorher im Einklang atmete, was einheitlich war, ist jetzt in tausend Stücke zerbrochen. Das endlich Wiedergefundene ist nun auf ewig verloren. Das Wesen aller Höhepunkte des Konzerts: gleichzeitig Klimax und Antiklimax. Die Fähigkeit zum Akzeptieren, daß wir nur das besitzen, von dem wir wissen, daß wir es verlieren müssen, das, was wir zu verlieren bereit sind. Der groteske Walzer, der zum Mittelpunkt geführt hat, wird derb fortgesetzt. Seine nun fanatische Ironie, rauhe Parodie, wird zu einem militärischen Geschwindmarsch umgedeutet (Takt 4/4, Orchestertutti), dem die Anwesenheit des "Schicksalsmotivs" auch die Konnotation eines Trauermarsches verleiht, und der zur Systemauflösung führt, wieder im scheinbaren Absterben, Verschwinden...

DIE GEFUNDENE ZEIT

Dritter Satz - Largo - Enthüllung

Ante scriptum. Der dritte, langsame Satz weicht am meisten von einer Sonatenreprise ab. Nach der Durchführung hat sich alles geändert. Nichts kann mehr völlig gleich sein. Die Reprise beginnt mit der Solobratsche, als ob ihre Kadenz aus dem vorhergehenden Satz sich fortsetzen würde. Alle drei thematischen Materialien sind hier verflochten, simultan oder sukzessiv. Die Reprise des ersten Themas ist unterlassen. Das zweite Thema ist in seiner Ganzheit anwesend, aber in einem anderen Kontext, anderem Umkreis, anderem Gewand. Reprisiert wird nachdem auch der Stoff des ersten thematischen Materials, der in der Exposition innerhalb des Komplexes des zweiten Themas interpoliert wurde. Er scheint die Funktion der Reprise des ersten Themas zu übernehmen (Spiegelreprise). Das dritte Thema, das, wie gesagt, teilweise aus dem zweiten hervorgegangen war, scheint jetzt nacheinander seine eigentliche Exposition, eigentliche Durchführung und eigentliche Reprise zu erleben. Wenn solches "Reprisieren" des dritten Themas die Funktion einer Schlußgruppe hat, analog der Exposition, jetzt aber mit ausgesprochen durchführungsartigem Charakter, dann folgt die Koda der Sonatenform, eigentlich ein richtiger Epilog (obwohl der ganze dritte Satz als Epilog, als Zusammenfassung des Vergangenen aufgefaßt werden kann), Höhepunkt und Rückführung, oder besser gesagt, Entgegenkommen zum ("alten", aber auch "neuen") ersten Thema. Entgegenkommen teilweise auch zum zweiten, symbolisch auch zur Möglichkeit der Existenz des dritten Themas.

Schematische Darstellung des III. Satzes

Da wir aber direkt aus dem Mittelpunkt des Erlebnisses zum Endpunkt gekommen sind, demjenigen Punkt, nach welchem alles verändert sein wird, denken wir von neuem, erinnern uns, "gucken" in die Zukunft hinein. In dem Augenblick/der Ewigkeit des "Wendepunktes", des "Sprunges", des "Falles" hat sich die Unwiederholbarkeit des Inneren, Intimen, Eigenen eingenistet. Unter anderem, auch die Unwiederholbarkeit der Zeit. So beginnt die Enthüllung der neuralgischen Punkte von jenem Hier und jetzt, das endgültig zum "gewesenen", "vergangenen" geworden ist.

Der innere Monolog. In der Kadenz der Solobratsche, im ersten Abschnitt des dritten Satzes, der eine kurzgefaßte oder symbolische Ankündigung des gesamten weiteren Verlaufs darstellt, kommt es zu einer Umdeutung aller drei Erinnerungen. In das, was sie für ihren Autor bedeuten. Man kann nur raten...

Die erste Erinnerung ist der Ursprung für Alles. Sie durchwebt als ein "Refrain" alles Bestehende. Die zweite Erinnerung ist das Eine. Jetzt braucht sie aber keine Symmetrien, keine Spiegel. Sie ist ein Teil des Intimen, des Eigenen. Die dritte Erinnerung, in ihrer ersten Form, ist nicht das Eine, sie ist auch das Zweite (im zweistimmigen Satz - zwei Oboen, oder Bratschen und Violoncelli - wie das Thema und seine "entfernte" Variation, die zusammen, simultan, das eigentliche Thema bilden), das Entzweigespaltene, sie existiert wie eine fremde, angeeignete Erinnerung, die herausragt, dissoniert, falsch intoniert, eine falsche Beziehung bildet, sie ist einfach nicht da am Platze, - und sie ist zusammen mit der zweiten Erinnerung (kontrapunktische Verbindung des dritten Themas in der Solobratsche mit dem zweiten im Englischhorn über der vollkommen tonalen "choralmäßigen" Begleitung in den Streichern) auch möglich im Kontext der ersten Erinnerung (dissonanter Abschluß des ersten Satzes des ersten Themas in der Solobratsche, zum ersten Mal völlig tonal harmonisiert), obwohl sie auch als tonal nicht zu diesem Komplex gehört, sie ist auch allein, das Eine (in der Solobratsche als F-Dur harmonisiert, wie im ersten Satz, jetzt aber mit "dissonanter", atonaler Kadenz), nicht mehr so sehr das Eigene, aber sie ist trotzdem, als extim, nur zu einem ihren Teil ein Teil des Ganzen. Das eigentliche Zitat, seine dritte, der Sonate Beethovens nächste Form erscheint im dritten Satz nicht.

Die Enthüllung, von einem ständigen Stören begleitet - zeitweilige Cluster-Schläge im Cembalo und Anwesenheit des "Schicksalsmotivs", wie auch die Schläge des chromatischen Totals (Hörner, Trompeten, Posaunen), das als Pedal in den Streichern am Ende der letzten kontrapunktischen Verknüpfung des ersten und zweiten Themas liegen bleibt - kulminiert in den letzten Abschnitten des Satzes, im Epilog, der auf dem "Schicksalsmotiv" fußt, auf 140 "Schlägen" in sechs Anläufen zu 24, 28, 14, 20, 31 und 33 "Schlägen". Nach der ersten Welle der "Schicksalsglocken" und der Ausfüllung des ganzen Orchesterraumes, stellt die zweite Welle von 28 "Schlägen" die Stelle des eigentlichen Klimaxes dar, und dann folgt die "Schlußdurchführung" - über der Basis des dritten und vierten Anlaufs erfolgt die Reprise des zweiten Abschnitts aus dem zweiten Satz (wo zum ersten Mal das zweite Thema und die zweite Form des dritten simultan entstanden waren und existiert haben - die Schnittkesche Welt) - eigentlich, vielleicht, die Enthüllung einer andersgearteten Welt, einer neuen Möglichkeit der Änderung, trotz allen potentiellen Reibungen, tragischen Lösungen und lyrischen Überbrückungen. Die vorletzte Welle von 31 "Schlägen" ist der Antiklimax, das Durchbrechen der Realität, ihre Transzendierung, und das Einmünden in einen neuen, noch undefinierten Anfang, auf einer anderen Ebene - in einen neuen Knotenpunkt der Unwiederholbarkeit des künstlerischen Erlebnisses. Einer neuen "Kindheit der Begegnung" entgegen. Eine Brücke dorthin zu schlagen...in die Unendlichkeit.

Sonst würden wir uns ständig erinnern, statt manchmal auch an das erste Mal zu glauben.

EPILOG

Die Sonden sind herausgezogen. Die Landschaft ist völlig frei. Die Musik ist da, so wie sie ist. Die musikalische Analyse ist da, so wie sie ist. Die semantische Analyse, welche auch eine Analyse des Erlebnisses einschließt, stellt eine parallele, neue "Partitur" dar. Wir chiffrieren und dechiffrieren unaufhaltsam. Ständiger Übergang der Worte in Ideen und der Ideen in Worte. Wenn wir über die Bedeutung eines Wortes denken, sind wir manchmal verleitet, unbewußt eine "ideale" oder falsche Bedeutung auszudenken... Aber sie ist nur die unsrige.

Belgrade, 1997.

 

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